Lässt du schon los oder klammerst du noch?
Lange hast du gebraucht, dich überhaupt darauf einzulassen. Viel zu unrealistisch erschien es dir, wie aus dem romantischsten Teil eines Liebesromans heraus wurde er in dein Leben hinein gezaubert. Und als du es dir endlich bequem gemacht und alle Viere von dir gestreckt und dich gerade tiefenentspannt hast, weil die Überzeugungsarbeit des Lebens alle Register gezogen hat – zieht er dir dein flauschiges Kissen unterm Kopf weg und den Boden unter dem (bisher gemeinsamen) Himmelsschlösschen gleich mit.
Plumps und Autsch. Was war das jetzt? fragst du dich. Bist du aus einem Traum aufgewacht? Kneifst dich vorsichtshalber mal selbst. Nee, du weißt den Namen, sein Aussehen und die Einzigartigkeit deines Seelenpartners so schnell wieder, wie du höchstwahrscheinlich aufspringst, wenn du bemerkst, dass du mitten in einem Ameisenhaufen stehst.
Er hat also aus (mehr oder weniger) heiterem Himmel zum Ausdruck gebracht, dass er
- keinen weiteren Kontakt mehr möchte
- dich zwar liebt, aber seine Gewohnheiten noch viel lieber hat
- seine Werte nicht kompatibel mit deinen sieht
- seinen Beruf jeglicher Form von echter, menschlicher Nähe vorzieht
- total auf seine Freiheit steht und für dich keine Kompromisse machen wird
- ihm die Erfahrungen mit einer anderen Frau jetzt wichtiger sind
- deine Bedürfnisse nicht erfüllen kann und will
- (unendlich) viel Raum für sich selbst braucht und deswegen kein Platz für dich ist
- warten muss, bis seine Kinder (3 und 4 Jahre alt) groß sind, weil er erst dann wirklich Zeit für die Liebe hat
- keine Schweißperlen der Angst mehr auf seiner Stirn möchte, die sich bei dem Gedanken an Veränderung und ein Leben mit dir regelmäßig bilden
- sich bei der NASA beworben hat und ihm der Anzug eines Raumfahrers (auf Lebenszeit angestellt) sehr gut stehen wird
Mitten im zu Boden taumeln kommt dich dann auch noch Familie „Aber“ besuchen.
- Aber das kann er doch nicht machen!
- Aber er verdrängt doch nur, was er wirklich fühlt!
- Aber das muss ihm doch jemand eingeredet haben? (Du hast natürlich auch schon einen Verdacht)
- Aber wir sind doch füreinander bestimmt!?
- Aber er kann mich doch nicht einfach so sitzen lassen?
- Aber ich hab mir das doch nicht alles eingebildet?
- Aber vielleicht ist er heute nur schlecht gelaunt?
- Aber das muss jetzt an seinem Ego liegen!
- Aber ich habs doch gelesen, dass dieses Verhalten ja ganz normal ist, wenn er meine Dualseele/Zwillingsflamme/oder ein Seelenpartner ist, jetzt rennt er (endlich) weg, also läuft doch alles nach Plan!?
Du beginnst zu klammern, ihn zu nerven, willst ihn vom Gegenteil und seiner unmöglich ernstgemeinten Aussage wegbringen. Du kannst nicht glauben, dass er eure einzigartige Verbindung so mit Füßen und in die unergründlichen Sphären aller bisherigen, doch so positiven Vorhersagen tritt. Du willst nur noch und am besten vorgestern zu ihm, die Angst vor Endgültigkeit, vor dem verlassen und allein sein steigt mit jeder Minute. Deswegen schreibst du ihm verständnisvolle und ermutigende Liebesbriefe mit den einfühlsamsten Worten, die dir jemals eingefallen sind; du überlegst, dass es an deiner aktuellen Kleidergröße liegen muss und springst in das nächste Sportgeschäft, kaufst dir aufgeregt eine neue, schicke Jogginghose um damit sofort in den nächsten Park zu rennen und schickst ihm umgehend ein Selfie davon, wie du die ersten 100 Gramm verloren hast (wenn ihn das nicht beeindruckt!); du lässt eine astrologische Auswertung für euch beide machen und erzählst ihm auch gleich, dass es klar auf der Hand liegt, dass er gerade eine „unstabile Phase“ wegen dem rückläufigen Merkur hat und dass das auch wieder vorbei geht.
Wenn er darauf immer noch nicht reagiert, legst du dir ein Profil in einer Single-Börse an, sitzt trotzig davor und teilst es solange bei Facebook, bis du sicher weißt, dass er online ist und es gesehen hat- DAS muss doch jetzt sitzen, ihm müssen doch die Ohren klingeln und sich sein Verstand endlich einschalten! Oder in anderen Worten, du tust alles, damit du die Trauer und den Schmerz nicht fühlen musst, den er (mal wieder) ausgelöst hat.
Und dann gibt es einen Teil in uns, der will die ganze Situation einfach nur noch verlassen und loswerden. Einfach nur noch raus aus der Nummer mit diesem … (ergänze die Punkte durch das Wort, dass dir spontan zuerst einfällt)! Einen schönen Seelenpartner hab ich mir da ausgesucht, was dem einfällt, sich so zu verhalten! Na, der wird bald merken, was ihm fehlt! Aber jetzt heißt es erstmal schnellstmöglich weg, geistig die Beziehungskoffer packen, also loslassen so schnell wie es nur irgendwie geht. Weil DAS steht ja schließlich auch überall und die Kartenlegerin hat es kürzlich erst gesagt „Du musst loslassen, damit das was wird“! Ähm, wie genau ging das jetzt nochmal?
Loslassen bedeutet nicht, keine Gedanken mehr an ihn zu haben, ihn zu vergessen oder plötzlich nichts mehr (für ihn) zu fühlen. Es bedeutet auch nicht, alle Hoffnung in den Wind schießen zu müssen, dass es doch noch „gut ausgeht“.
Loslassen bedeutet in erster Linie, die Situation, genau so wie sie ist, überhaupt erstmal anzunehmen, das nimmt ihr deinen innerlichen Widerstand und damit einiges an seelischem (und nicht selten auch körperlichen) Schmerz.
Loslassen
- ist dann möglich, wenn du wirklich bereit dafür bist, keinen Zentimeter vorher
- ist im Normalfall ein „Loslassen in Etappen“
Es kann dir auch deshalb noch schwer fallen, weil etwas fehlt. Vielleicht
- eine Erkenntnis, z.B. darüber, dass du wieder über deine eigenen Grenzen gegangen bist, wieder länger ausgehalten und gewartet hast, als du wolltest; dein Bauchgefühl ignoriert hast; oder selbst noch nicht klar und eindeutig JA zu ihm gesagt hast
- Ehrlichkeit mit dir selbst (kommt dir die Situation nicht doch irgendwie gelegen?)
- die Heilung alter, ähnlicher Situationen, an die du gerade (unbewusst) erinnert wirst und sie sich schon begeistert Schlange anstellen, damit du dieses Mal genauer hinsehen, etwas anders machen kannst
- trauert die Frau in dir, die sich so lange nicht gesehen fühlte – durch ihn bekamst du endlich Zuwendung und Bestätigung, selbst wenn es nicht viel und nur kleine, kostbare Momente waren, dafür aber in einer ungeheuer „exklusiven Qualität“. Jetzt wartet sie auf dich und darauf, dass du diese kostbaren Momente wieder in und mit dir selbst findest, ohne die Abhängigkeit von ihm und seinem Verhalten
- rebelliert dein inneres Kind. Du hast dich so tief geöffnet, wie bei niemandem zuvor – auch wenn deine Angst vor Enttäuschung unglaublich groß war, wieder verletzt zu werden. Die Kleine will festhalten und die Situation nicht einfach kampflos aufgeben, denn die Panik davor, schon wieder alleine dazustehen, ist groß, das Vertrauen ins Leben ist noch nicht wirklich vorhanden und die Idee von einem Seelenplan hilft ihr mal grad gar nicht
„Das Leiden ist so lange nötig, bis du erkennst, dass es unnötig ist.“ (Eckhart Tolle)
Unnötig wird es dann, wenn der Groschen gefallen ist, manchmal ist sogar Platz für einen ganzen Klingelbeutel. Gib dir Zeit zu verstehen, was alles in dir wirkt, warum es dir passiert ist, was du jetzt verändern kannst und vor allem, mach dir keinen Druck, dass du jetzt eine Meisterin im Loslassen werden musst und das noch ziemlich zügig – streich dieses inzwischen echt stressig besetzte Wort am besten aus deinem Sprachschatz.
Und besorg dir ein neues Kissen, damit du auf jeden Fall wieder ordentlich schlafen kannst. 😉
~Rebekka Gutmayer~
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P.S.: Ausnahmen bestätigen die Regel, und alle Eventualitäten kann ich nicht immer berücksichtigen. Deswegen nimm dir nur das, was du brauchen kannst. Alles andere lass einfach stehen.
P.P.S.: Buchempfehlung: Das innere Kind – Angst loslassen von Susanne Hühn